SHANGHAI: YILI

yili unf kleber
Wir treffen eine Frau, eine Musikproduzentin, die ein Jahr in Berlin gelebt hat um zu malen. Sie sagt, sie finde Berlin toll, nur die Armut sei schwer zu ertragen. Die Musiker, die sie da kennengelernt habe können sich nicht einmal Obst kaufen. Über die Musikproduzentin lernen wir Yili kennen, er ist ein Freund von ihr, Designer und homosexuell. Die Musikproduzentin hat verstanden, dass wir auf unsere sehr eigene Art in unserem Projekt Menschen im Alltag begleiten und uns Yili vorgeschlagen. Wir erklären ihr, dass wir nur Menschen begleiten, die wir auf unseren Strassenexpeditionen finden. Sie sagt, mit Yili müssten wir eine Ausnahme machen, an jemand wie Yili kämen wir nicht zufällig heran, da er seine Wohnung nicht verlässt. Yili aber wäre für unsere Shanghai Erfahrung unabdingbar. Wir beschliessen ihn zu treffen, ohne zu wissen wohin das führt.

Die Musikproduzentin arrangiert also ein Treffen in einem Café, ein Kennenlernen, dem sie beiwohnt und das sie auf eine distanzierte, neugierige Art bewacht. Yili ist etwa 40, sehr gepflegt, kultiviert. Wir sprechen wie immer nichts, die Produzentin beobachtet das Experiment. Yili spricht ein etwas poetisches Englisch, sehr langgezogene Vokale und sehr kurze Konsonanten. Als ihm die Worte ausgehen, hat er entschlossen uns zu vertrauen. Er lädt uns zu sich ein, wir fahren seinem schwarzen SAAB etwa eine Stunde durch den Stau Shanghais. Wir, als schweigende Unbekannte mit dem seltsamen Projekt auf der Rückbank, er vorne in Obhut der Musikproduzentin. Der Regen prasselt wie Yilis Worte unaufhörlich. Die Musikproduzentin beschränkt sich auf zustimmende Geräusche.In der Wohnung zeigt Yili der Musikproduzentin seine Einrichtung die imposant ist, Möbel im Kolonialstil, Designerstühle, diese Wohnung und diese Einrichtung müssen sehr viel Geld gekostet haben. Sie diskutieren angeregt über einen Kissenbezug, während wir zusehen und Nescafe schlürfen. Als sie alle Dinge und Gegenstände betrachtet und bewundert hat, zieht sich die Musikproduzentin langsam ihre Schuhe an. Sie hätte sich gern im blauen Satinvorhang versteckt und verfolgt was jetzt passiert. Was diese Fremden da jetzt zusammen machen. Was wird das bloss. Aber sie verabschiedet sich dezent. Wir sind mit Yili allein, spüren erst jetzt seinen Horror.
Er will nicht mit uns allein hier sein. Wie spät es denn sei? Er horcht ins Zimmer. Zwei Uhr Nachmittag? Ich mache fragende Gesten, die andeuten, ob wir gehen sollen. No, sagt er, you can stay. Wir bleiben schweigend sitzen. Eine Katze kommt unter dem Sofa hervor, setzt sich auf einen antiken Sessel, blickt in die Runde. Yili sagt: Her name is Shy. Er habe aufgehört zu arbeiten, sagt er irgendwann unvermittelt, seit einem Jahr. Er sei immer allein in seiner Wohnung, ausser wenn sein Freund da ist. Er mache nichts. Wir wollen doch den Alltag verschiedener Menschen begleiten, oder? Er hat aber keinen Alltag. Es gäbe da nichts zu filmen. Wenn wir wollen, dann könnte er bügeln. Das macht er manchmal. Das könnten wir filmen. Er lächelt. Dann redet er weiter, fast eine Stunde. Wir sitzen da und hören ihm zu. Wir verstehen, dass er uns eingeladen hat, weil wir nichts sagen, weil er uns nicht kennt, weil wir für ihn eine Anwesenheit von Mensch sind, das nicht urteilt spricht weil es einfach zuhört.  Er liebt die Filme mit Catherine de Neuve. Er liebt diese alten europäischen Filme. Vor Catherine de Neuve und diesen Filmen habe er die Europäer nie verstanden, habe er sich vor ihnen gefürchtet. Dann habe er diese alten französischen Filme aus den 60ern gesehen und verstanden, dass die Europäer nicht anders fühlen, nicht anders lieben, sich nicht anders fürchten als er. Er macht eine Pause. Er sagt, dass er seinen Job geschmissen hat, weil er nicht mehr schlafen konnte. Er konnte nicht mehr schlafen, weil er jede Nacht an den nächsten Tag gedacht hat, und an die Kunden, die er da treffen würde. Durch jeden dieser Kunden würde er sehr viel Geld verdienen können, das hat ihn nicht schlafen lassen. Er hatte einen Chef, einen Amerikaner, der hat ihn sehr gut motiviert. Der hat ihm immer mehr Geld versprochen. Mehr und mehr Geld habe Yili bekommen. Den ganzen Tag hat er geredet. Geredet und geredet. Das Reden und das Verkaufen das war eins, am Abend hatte er nicht mehr viel Worte. Für seine Eltern am Telefon nicht, für seinen Freund nicht. Und er hat nicht mehr geschlafen. Seine Nerven wurden wund. Er hätte zum Arzt müssen, aber er mag die Ärzte nicht. Er musste früher zum Arzt, vor seinem Leben in Shanghai, im Dorf, da musste er zum Arzt, mit seinen Eltern, die glaubten, dass er krank war, weil er Männer liebte. Shanghai hat ihn gesund gemacht. Er liebt Shanghai, weil er hier Männer lieben kann, ohne dass das eine Krankheit ist. Jetzt aber hat Shanghai ihn wieder krank gemacht. Sein Kopf, der sei krank. Irgendwann ist er doch zum Arzt. Er hat Medikamente bekommen. Und er hat aufgehört zu arbeiten. Er horcht in die Wohnung. Er streichelt seine Katze. Die Katze beisst ihn und verschwindet unter dem Sofa. Die Wohnung habe sehr viel Geld gekostet. Jetzt sei er zuhause. Immer. Am Abend kommt sein Freund, der arbeitet und nicht versteht, dass Yili krank ist. Niemand versteht es. Yili möchte nicht mehr reden. Er möchte nicht mehr lügen müssen.
Plötzlich wird er wütend: Shanghai sei eine Lüge. Alles fake. Er habe Angst rauszugehen. Dann stockt er wieder, fast als wolle er sich bei Shanghai entschuldigen, dass er doch liebt, dem er doch etwas schuldig sei, das Gefühl gesund zu sein und jetzt, jetzt macht es ihn wieder krank, nein, er liebt Shanghai. Er liebt die Restaurants, das Ausgehen, er liebt, dass er lieben kann, wenn er will.. Dann stockt er wieder. Er sagt, er gehe ja gar nicht mehr hinaus. Er könne niemand sagen, wie es ihm wirklich geht. Niemand. Er lächelt. Er ist froh dass wir ihn nicht kennen. Yili steht auf, sagt, er würde jetzt bügeln gehen. Wir können sehr gern da bleiben und ihm zusehen. Wir bleiben da und sehen ihm zu. Er bügelt einen sehr teuren Stoff. Er hängt ihn auf. Im Flur. Er sieht ihn an. Von verschiedensten Seiten seiner Wohnung. Er ist zufrieden. Er holt einen Kleber um eine Leiste am Boden zu reparieren. Er sagt, er habe diesen Kleber sehr billig gekauft. One Yuan, only! In China sei alles billig. Aber sehr schlechte Qualität. Unerträglich. Dann fängt er an zu kleben. Er beugt sich zur Leiste hinunter und stöhnt. Er nimmt den Kleber, der Stoff quillt heraus, quillt auf seine Finger und jetzt bleibt die ganze Tube am Finger kleben, Yili schreit auf, Yili lacht, Yili will die Klebertube von seinem Finger reissen, aber das geht nicht. Yili geht in die Küche zum Wasserhahn, hält seinen Finger mit der Tube unter das Wasser und zerrt, die Tube will nicht ab. One Yuan, schreit Yili und lacht gequält, one Yuan. Er setzt sich vor seinen Computer. Den Finger mit der Tube abgespreizt, recherchiert er im Internet was zu tun ist. Das Internet sagt: den Finger unter heisses Wasser halten. Das hat er getan. 10 Minuten lang. Nichts. Irgendwann verliert Yili die Geduld. Er reisst die Tube ab, das Metall bleibt am Finger, klebender Klebstoff fliesst zäh aus der kaputten Tube. Er lacht: one yuan, one yuan, one yuan!